Die sogenannte »Steuerungsgruppe«
Bereits im Jahr 2012 verständigten sich DGSF und SG auf die Einrichtung einer gemeinsamen Steuerungsgruppe, die im weiteren Prozess die strategischen Entscheidungen treffen sollte. Dieser Steuerungsgruppe gehören alle Autoren des Artikels an, jeweils in Funktionen, die für ein solches Gremium für zentral befunden wurden: Ulrike Borst (Vorsitzende SG), Enno Hermans (Vorsitzender DGSF und Sprecher der Gruppe), Sebastian Baumann (Vorstandsbeauftragter), Kerstin Dittrich (Referentin), Reinert Hanswille (Leiter der ersten systemischen staatlich anerkannten Ausbildungsstätte), Matthias Ochs (Hochschullehrer und wissenschaftlicher Berater). Dieses bezüglich Kompetenzen und Funktionen heterogene und überschaubare Team erwies und erweist sich als eine sehr geeignete Struktur zur Prozessbegleitung und zur Vernetzung der zahlreichen Aktivitäten. Besonders ist hierbei die Kooperation zwischen den Fachverbänden DGSF und SG hervorzuheben: Obwohl die Verbände an anderen Stellen auch im Wettbewerb miteinander stehen, war die Steuerungsgruppe der Ort, an dem alle Informationen unabhängig von daraus resultierenden individuellen Vorteilen geteilt wurden. Diese Vertrauensbasis hat die teils harte Arbeit in der Gruppe sehr erleichtert.
Womit hat sich die Steuerungsgruppe die letzten sieben Jahre in zahlreichen Treffen und Telefonkonferenzen beschäftigt? Generell ging es darum, alle Verfahrensschritte zu begleiten, trotz knapper Ressourcen Kontakte mit den Stakeholdern aufzunehmen und wichtige Aspekte in die politische (Fach-)Öffentlichkeit zu bringen. Bei Sebastian Baumann in Berlin liefen alle politischen Fäden zusammen. Problematisch war, dass die meisten Beratungen geheim abliefen und weniger Versorgungs- oder psychotherapeutisch-fachliche Fragen im Vordergrund standen als vielmehr eine Orientierung daran, ob neue Kosten entstehen würden. Statt der gesetzlich vorgesehenen drei Jahre zieht sich das Verfahren unabgeschlossen bereits über sechs Jahre (!) hin. Dabei zeigt die DEGS-Studie (Jacobi et al., 2014) des Robert-Koch-Instituts zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland, dass in einem Zeitraum von 12 Monaten rund jeder Dritte im Alter zwischen 18 und 65 eine psychische Störung erleidet. Es macht deshalb keinen Sinn, wenn lediglich ein- bzw. genauer zweidimensional behaviorale und psychodynamische Ansätze zum kassenfinanzierten Einsatz kommen für diese für die Volksgesundheit hoch relevanten Beeinträchtigungen.
Aber auch an anderer Stelle ist der G-BA reformbedürftig: Die Atmosphäre zwischen Leistungserbringern und Krankenkassen ist teilweise eisig. Weil man manchmal keine Einigung findet, wird endlos und mit immer gleichen Argumenten diskutiert, und das geht vor allem auf Kosten der Zeit. Es fehlen weitere Mediationselemente, die strittige Fragen zu einem schnelleren Ergebnis bringen. Unser Eindruck war, dass es dann gut funktioniert, wenn Einzelne über ihre soziale Kompetenz Einfluss nehmen. Der Spitzenverband Bund der gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV-SV) als Sprachrohr aller Krankenkassen, die untereinander im Wettbewerb stehen, kann sich häufig nur auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigen, und der heißt leider allzu oft: »Njet«.
Politiker aller Parteien, mit denen wir gesprochen haben, haben wir der Systemischen Therapie gegenüber sehr aufgeschlossen erlebt. Fraktionsübergreifend wolle man sich dafür einsetzen, dass 32 Jahre nach Aufnahme der Verhaltenstherapie wieder ein neues Verfahren den Versicherten zur Verfügung gestellt wird. Die Kleine Anfrage der Bundestagsfraktion von Bündnis90/Die Grünen an die Bundesregierung, warum es bei der Systemischen Therapie immer noch keine Entscheidung gibt, brachte weitere wichtige Aufmerksamkeit, ebenso der besondere Einsatz von Dirk Heidenblut, SPD, Mitglied im Gesundheitsausschuss des Bundestages.
Neben der generellen Begleitung und den unter immensem Zeitdruck erarbeiteten Stellungnahmen auf höchstem fachlichem Niveau, galt es den Prozess mit Öffentlichkeitsarbeit zu unterstützen und immer wieder auf die Verschleppung des Verfahrens hinzuweisen.
Beispiel IQWiG: Der Abschlussbericht ist sehr detailliert (890 Seiten) und nach State of the Art der evidenzbasierten Medizin durchgeführt worden. 8 Das Problem ist nur: Wer im Gesundheitswesen liest einen 890seitigen Abschlussbericht, außer den ganz wenigen direkt Betroffenen? Die Gegner Systemischer Therapie versuchten, den Abschlussbericht als vollkommen uneindeutig darzustellen, etwa indem sie die Zusammenfassung von psychischen Störungen zu Anwendungsbereichen, die an das ICD angelehnt sind, infrage stellten (nach dem Motto: woher weiß ich, dass ein Wirksamkeitsnachweis bei sozialen Ängsten auch für generalisierte Angststörungen gilt?). Hier war es wichtig, die Hauptaussagen des IQWiG grafisch ansprechend und knapp darzustellen und alle Evidenzen bündig so zu zeigen und zu kommunizieren, dass sie trotzdem einer genauen Prüfung standhalten.
Stellungnahmen und mündliche Anhörungen der Verbände
Die Steuerungsgruppe schrieb auch mit Unterstützung von Mitgliedern der z. T. neu besetzten »Expertise-Gruppe«, v. a. mit Markus W. Haun, dessen genaue Kenntnis auf dem aktuellsten Stand der evidenzbasierten Medizin von unschätzbarem Wert war, die gemeinsamen Stellungnahmen der Verbände und entschied von Mal zu Mal, wer die gemeinsame Sache vertreten sollte, wenn die Verbände mündlich Stellung nehmen durften. Dreimal war das der Fall, und hier zeigte sich so richtig, was gute Zusammenarbeit bedeutet.
Im Mai 2015 reisten Rüdiger Retzlaff und Ulrike Borst nach Köln, um die Stellungnahme unserer Verbände zum Berichtsplan des IQWiG mündlich mit den Projektmitarbeitern des IQWiG und externen Experten zu erörtern. Sie erlebten eine sehr faire Befragung, mit dem spürbaren Bemühen, die einzelnen psychotherapeutischen Methoden »richtig« zuzuordnen, um im weiteren Verlauf der Sichtung und Bewertung von Studien möglichst große Eindeutigkeit zu erreichen.
Im November 2016 reisten dann Rüdiger Retzlaff, Kirsten von Sydow und Ulrike Borst wieder nach Köln, um mit den IQWiG-Mitarbeitern die Stellungnahmen zum Vorbericht des IQWiG wissenschaftlich zu erörtern. Es ging um Versorgungsrelevanz der Systemischen Therapie, Qualität der Studien, Besonderheiten der Psychotherapieforschung.
Weil einige wichtige Studien nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt waren, setzte sich Matthias Ochs in seiner Funktion als Ko-Präsident der Heidelberger Systemischen Forschungstagung 2017 ein und lud Olavi Lindfors aus der Arbeitsgruppe von Paul Knekt ein, um die Angstdiagnose-spezifischen Ergebnisse der Helsinki Psychotherapy Study vorzustellen und in einem Tagungsband zu veröffentlichen (Ochs, Borcsa & Schweitzer, 2020). Auch die Heidelberger Systemische Forschungstagung 2014 wurde bereits genutzt, um den sozialrechtlichen Anerkennungsprozess von wissenschaftlicher Seite flankierend zu unterstützen: Russell Crane von der Brigham Young University in Utah (USA) stellte im Eröffnungsvortrag seine Analysen von Krankenkassendaten vor, die diagnoseübergreifend zeigen, dass es effizienter ist, mit Familien als mit einzelnen Patienten zu arbeiten.
Als schließlich im Juni 2017 der Abschlussbericht des IQWiG veröffentlicht wurde, waren wir selbst hoch erfreut, wie gründlich und umfassend das IQWiG gearbeitet hatte, auch wenn wir den Ausschluss von einigen Studien nicht nachvollziehen konnten.
Die in diesem Zusammenhang geführte Debatte mündete (unter anderem) in ein Heft 4/2018 dieser Zeitschrift, in dem auf fachlich höchstem Niveau um eine Antwort auf die Frage gerungen wurde, ob der »Goldstandard« der EbM wirklich ausreicht, um die Wirkungen von Psychotherapie zu erfassen.
In einer weiteren Diskussion ging es darum, wem welche psychotherapeutische Methode »gehört«. Bei immer integrativeren Vorgehensweisen kann ein bestimmtes psychotherapeutisches Handeln nur schwer eindeutig zugeordnet werden.
In der letzten mündlichen Anhörung im September 2018 beim G-BA wurden Sebastian Baumann, Markus W. Haun, Enno Hermans und Ulrike Borst unterstützt durch Vertreter anderer Verbände, die äußerst überzeugend darlegten, dass z. B. die Therapie in der Psychosomatik oder in der Kinder- und Jugendpsychiatrie ohne systemisches Arbeiten undenkbar ist.
Eine andere Herausforderung bestand darin, in die Gesundheits- und Entscheiderszene hinein zu kommunizieren. Pressemeldungen der Fachgesellschaften werden dort kaum gelesen. Über Kommentare auf einer vielgelesenen Internetplattform, in der sonst vorrangig Vorstände der großen Krankenkassen und Bundestagsabgeordnete kommentieren, konnten wir unsere Sicht darstellen. Das 25-jährige Jubiläum der SG wurde zum ersten parlamentarischen Abend gemeinsam genutzt, um mit Beteiligten direkt ins Gespräch zu kommen.
Wir mussten aber auch so manche Lektion lernen. Zum Beispiel die, dass »Gerechtigkeit« oder »Verfahrensgerechtigkeit« als politisches Argument nicht zieht. Manche Gespräche mit Vertretern von Krankenversicherungen zielten nicht darauf ab, die Verbesserung der psychotherapeutischen Versorgung in den Blick zu nehmen, sondern wurden genutzt, um mögliche Schwächen auszuloten, die sich für sie im weiteren G-BA-Verfahren nutzen lassen würden. Auf der anderen Seite gab es aber auch Kassenvertreter, die uns als »Überzeugungstäter« sehr unterstützt haben.
Auch die allermeisten Vertreter der anderen Verfahren sowie die großen Berufsverbände, die Bundespsychotherapeutenkammer und die Bundesärztekammer standen entweder von Anfang an oder stellten sich im Verlauf hinter uns. Ebenso unterstützte uns die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) und hatte einen großen Anteil an dem positiven Ausgang des Verfahrens. Hätte sich der Beschlussentwurf des Spitzenverbandes Bund der gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV-SV) durchgesetzt, hätten noch weitere, naturalistische Studien aufgesetzt werden müssen. Deren Ergebnisse hätten erst nach Jahren vorgelegen, und dann hätten die Beratungen von neuem begonnen. Wir hoffen und appellieren nun, dass die Entscheidung für den Kinder- und Jugendlichenbereich deutlich schneller gefasst wird.
Der historischen Einordnung des Gesamtprozesses durch Hans Schindler kann nur zugestimmt werden: Weil systemische Ansätze sehr stark außerhalb des Psychotherapie-Bereiches verbreitet sind, haben SG/DGSF eine immens starke Mitglieder-Basis, die es den Fachgesellschaften ermöglicht hat, sich für die sozialrechtliche Anerkennung einzusetzen. Ohne die Mitglieder, die im Bereich von Jugendhilfe, lebensweltlicher Beratung, Schulen, Kindergärten, Kirchen, Organisationen, Familienunternehmen und an anderen Stellen arbeiten, wäre die sozialrechtliche Anerkennung nicht möglich gewesen. Das ist umso bemerkenswerter, als die meisten Mitglieder selbst nicht zu Lasten der Gesetzlichen Krankenversicherungen werden arbeiten können. Trotzdem stimmten z. B. im Jahr 2012 bei einer Online-Umfrage der SG 73 % der vielen teilnehmenden Mitglieder dafür, sich weiter für die sozialrechtliche Anerkennung einzusetzen (18 % waren unentschieden, 9 % dagegen). Wir sehen das als ein sehr starkes Zeichen: In Zeiten, in denen beklagt wird, dass Menschen ausschließlich auf ihren eigenen direkten Vorteil bedacht sind, hat sich die Mitgliedschaft für ein Ziel eingesetzt, das vor allem der nachfolgenden Generation neue Wege eröffnen wird.
Systemische Approbationsausbildungen
Die sozialrechtliche Anerkennung verändert die Ausgangslage für den Erwerb der Approbation nun grundsätzlich. Im Rahmen der sogenannten ›Praktischen Ausbildung‹ (600 Stunden eigenverantwortliche Psychotherapie) kann mit einer Refinanzierung durch die gesetzlichen Krankenkassen gerechnet und damit endlich eine Gleichstellung zu den anderen Richtlinienverfahren erreicht werden. Außerdem wird es für psychiatrische Kliniken und psychotherapeutische Praxen interessanter, den Kollegen, die sich in einer Ausbildung im Vertiefungsgebiet Systemische Therapie befinden, eine Anstellung im Rahmen der praktischen Ausbildung Teil I und II anzubieten. Im Laufe dieses und des kommenden Jahres werden einige weitere Institute, die in der DGSF/SG beheimatet sind, Approbationsausbildungen im Vertiefungsgebiet Systemische Therapie anbieten. Bereits jetzt ist erkennbar, dass darüber hinaus auch Ausbildungsstätten, die bisher andere Richtlinienverfahren angeboten haben, zusätzlich auch Systemische Ausbildungen anbieten werden.
Interessierte Hochschulabgänger mit einem Master in Psychologie gibt es reichlich. Die größte Schwierigkeit für Institute, die sich auf den Weg machen wollen, besteht darin, eine ausreichende Anzahl an approbierten Trainerkollegen zu gewinnen, die über fünf Jahre im Vertiefungsgebiet Systemische Therapie tätig waren und drei Jahre am Institut gearbeitet haben. Viele Bedingungen und Regelungen kann ein Institut mit dem zuständigen Landesprüfungsamt vorab besprechen und sogar Übergangsbedingungen verhandeln. Deshalb ist neben der internen Klärung im Institut der Aufbau einer guten Kooperation mit dem zuständigen Landesprüfungsamt zentral.
Wir hoffen, dass sich noch viele Institute darum bemühen, denn der Zeitraum, in dem eine staatliche Anerkennung erzielt werden kann, ist durch die geplante Reform des Psychotherapeutengesetzes begrenzt bis voraussichtlich September 2020. Wenn man für den Anerkennungsprozess zehn Monate einkalkuliert, wird es höchste Zeit, sich auf den Weg zu machen.
Die Reform des Psychotherapeutengesetzes wird die Ausbildung radikal verändern. Die Approbation wird in Zukunft nach einem Studium der »Psychotherapiewissenschaft« erworben. Danach wird in einer fünfjährigen Weiterbildung (die derzeitigen Ausbildungsinstitute werden in Weiterbildungsinstitute überführt) die in einem spezifischen Altersbereich, Erwachsene oder Kinder/Jugendliche und einem Vertiefungsgebiet angesiedelt ist, die Basis geschaffen, um den Arztregistereintrag zu erhalten und mit den gesetzlichen Krankenkassen abzurechnen. Die entsprechende Weiterbildungsordnung wird von den Landespsychotherapeutenkammern geregelt. Bisher ist geplant, dass sie zwei Jahre im stationären und zwei Jahre im ambulanten Kontext und ein Jahr in sogenannten institutionellen Kontexten (Sozialpsychiatrie, Beratungsstellen, Jugendhilfe, Suchthilfe etc.) beinhalten wird und daneben eine theoretische Weiterbildung mit Supervision und Selbsterfahrung laufen wird. Wir hätten den systemischen Instituten mehr Zeit gewünscht, sich in der alten Ausbildungsform zurechtzufinden. So kommen sie in eine Übergangsphase hinein, die mit neuen Unsicherheiten behaftet ist. Andererseits bietet sie eine große Chance, die Profile der Institute zu schärfen und einen weiteren Professionalisierungsschritt zu gehen – das zumindest ist die Erfahrung der Institute, die diesen Weg schon beschritten haben. Ausbildungen nach »alter Art« können noch bis 2032 abgeschlossen werden.